Krafträume

Tanz und Theater in der Kirche


 

Andre Wülfing und Thomas Schöps in: "aus der Praxis - für die Praxis". Sucht der Stadt Bestes; Kirche für die Stadt in der Stadt, Hg. Amt für missionarische Dienste der EKvW, Dortmund, Ausgabe 2003, S. 33f.

 

 

"Sie werden lachen, die Bibel!" Dies war die Antwort des bedeutenden deutschen Dramaturgen Bertold Brecht (1898-1956) auf die Frage, welches literarische Werk zu seiner Lieblingslektüre gehöre. Wie kommt ein Theatermann und Kommunist zu solch einer Aussage? Er erkennt, dass die biblischen Geschichten keine abstrakten Wahrheiten formulieren, sondern vom Leben sprechen.

 

Und in der Tat, wer - als Christ oder Nicht-Christ - die überlieferten Geschichten, Gleichnisse und Parabeln aufmerksam liest und hört, erkennt die Tiefe ihrer Reflexion über die Gestalt unserer Lebenswirklichkeit.

 

Brechts Theatertheorie, die sich für die konsequente Beibehaltung der Erzählstruktur, d. h. die epische und dialektische Dimension der Texte einsetzt, kommt der Auslegung und dem Verständnis biblischer Texte dabei besonders nahe. Als Exeget kann man viel von Brecht und den heutigen Theatermachern, die seinem Ansatz folgen lernen. U. a. immer die Distanz zu dem Erzählten zu bewahren und im laufenden Predigtgeschäft die biblischen Überlieferungen nicht einer allgemein allegorischen Auslegung zum Opfer fallen zu lassen.

 

 

Theater und Kirche, das gehört zusammen

 

Dass unserer Kirchen in ihrer Gestaltung Theatern gleichen mit "Bühne" und "Publikumsrängen" ist offensichtlich. Aber auch der Gottesdienst ist immer Inszenierung und das verkündigte Wort immer Stoff für Dramaturgie. Von Alters her sind Theater und Kirchen Versammlungsorte für ein Miteinander, Gemeinsam-Sein und Gemeinsam-Erleben. Stätten, in den Akteure wie Publikum (hier verstanden als präsente Öffentlichkeit) Nahrung für Geist und Seele und Glauben erhalten. Die Inszenierungen gleichen sich, sind ein Geben und Nehmen, ein Dienst unter Menschen, von und am Menschen, letztlich demnach ein Dienst an und für Gott.

 

 

kleine REIHE - Theater & Tanz

 

Seid 3 Jahren gibt es das Kooperationsprojekt "kleine REIHE - Theater & Tanz in der Bleckkirche" zwischen dem Gelsenkirchener Consol Theater und der Stadtkirchenarbeit im Kirchenkreis. Sechs Veranstaltungen im Jahr werden im Rahmen des laufenden Kulturprogramms im ältesten Sakralbau der Stadt präsentiert.

 

Entstanden ist die Zusammenarbeit aus dem Bemühen beider Partner, die vielfältige Nutzung öffentlicher Räume für die Kultur in Gelsenkirchen zu fördern und ausgewählten, zeitgenössischen Stücken ein künstlerisches Forum in einer ganz besonderen Umgebung und Atmosphäre zu bieten.

 

Jenseits von darstellenden Illustrationen biblischer Geschichten, dem Krippenspiel z.B., der Einbindung von gespielten Szenen in den Gottesdienst o. ä., geht es hier also um professionelle Bühnenveranstaltungen in der Kirche, Vorführungen darstellender Kunst der Sparten Schauspiel und Tanz vor einem Publikum im sakralen Raum, deren Inhalte sich auch und vor allem nicht biblischen, klassischen wie zeitgenössischen Vorlagen verdanken. Und immer geht es darum, im Tanz und Theaterspiel die abstrakten Zusammenhänge des menschlichen Seins, des Lebens, der Zwischenmenschlichkeit, seiner Tragödie genauso wie seiner Lust be-greifbar und nach-erlebbar zu machen.

 

Das Leuchten und die Abgründe des Mensch-Seins verlangen mehr denn je nach einer sprachlichen wie visuellen Konkretion. Jenseits der übermächtigen Bilder- und Informationsfluten der Medien allerdings, denn das Theater lebt - wie auch der Gottesdienst - durch die unmittelbare Präsenz und Beteiligung seiner Akteure und seines Publikums.

 

 

Theater im sakralen Raum

 

Sakrale Räume haben eine unbändige Präsenz und Dominanz. Jede Kunstform, die dort zur Präsentation kommt, muss dies wissen. Nicht alles passt in eine Kirche. Nicht weil es dem sakralen Raum schaden würde, sondern umgekehrt: weil es der Kunst schaden könnte. Theater und Tanz machen da keine Ausnahme. Aber mehr als andere Kulturgenres können die darstellenden Künste vom sakralen Raum profitieren. Seine spirituelle Kraft legt sich gleichsam einer deutenden Chiffre über das Vorgeführte und gibt den Betrachtern eine unmittelbare Interpretationshilfe zur Hand.

 

Der Tanz und das Theater nehmen dies spirituelle Kraft des Kirchraumes auf besonderer Weise auf. Licht, Bühnengestaltung, Musik und vor allem die bewegten Bilder leibhaftiger Personen verändern den Blick auf das (sonntäglich) Gewohnte und verwandeln den Raum Kirche in einen Ort der vielfachen geistlichen und sinnlichen Erfahrung.

 

Theater im Schiff der Kirche folgt der Suche nach magischen Orten, nach Krafträumen, an denen mit dem sechsten oder siebten Sinn, jenem des Ahnens und des Glaubens, gespürt werden kann, dass hier Menschen gebetet, gehofft, gefleht und geglaubt haben, als Einzelne und in Gemeinsamkeit, als Gruppe, Gesellschaft, Gemeinde: als Publikum.

 

Krafträume öffnen, das will unserer Gottesdienst auch. Das Theater, ist ihm verwandt im Zugang zum Menschen, seinem Sein, seiner Existenz und seinem Wirken. Es will die Öffnung der Seelen eines jeden und einer jeden für einen kurzen, transzendenten Augenblick. Es spinnt den Faden von meinem eigenen inneren Befinden zu der behütenden und tröstenden Kraft außerhalb meiner selbst. Was, anderes, will Gottesdienst, als diesen Zugang des Einzelnen zum Höheren öffnen?

 

 

Theater auch bei Ihnen?

 

Auch wenn es zunächst befremdlich erscheinen mag, den Kirchraum mit seiner eindeutigen Zuordnung auf unserer kultisches Handeln für scheinbar profan-weltliche Veranstaltungen zu öffnen, möchten wir den kirchlichen Gemeinden gerade dazu Mut machen. Es bedarf keiner Stadtkirchen- oder Kulturkirchen-Projekte. Jede Gemeinde hat die nötigen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Orte zur Verfügung. Und wenn es nicht die Kirche sei soll, tut es auch der Gemeindesaal.

 

Bieten Sie Ihren Gemeindegliedern und den Menschen Ihres Ortes oder Stadtteils dieses andere Erleben Ihrer Kirche.

Es mag ein Experiment sein. Ein Experiment allerdings, dass über dem punktuell Erlebten hinaus vielfältige Gespräche und garantiert spannende Kontroversen auslösen wird. Gerade an diesem Punkt haben die Gemeinden den Stadtkirchenprojekten sogar einiges voraus.

 

Viele Theaterleute sind bereit mit ihren Produktionen in Gemeinden und ihren Kirchen aufzutreten. Und dies gerade und vor allem auch, weil sie selbst den Zugang zur Institution Kirche suchen, die ihnen selbst oftmals auch fremd erscheint bzw. geworden ist.

 

Wir - André Wülfing, Regisseur am Gelsenkirchener Consol Theater und Pfr. Thomas Schöps, Beauftragter für Kultur und Stadtkirchenarbeit im Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid - sind gerne bereit, mit  Tipps, Kontakten und Hilfestellungen auszuhelfen. Als weiterer kompetenter Ansprechpartner steht Ihnen auch Pfr. Michael Küstermann von der Kulturinitiative AKKU der Dortmunder Kirchenkreise zur Verfügung.

 

Aktuelle Informationen über das Projekt Bleckkirche sowie Kontaktaufnahme mit uns sind zu erfahren unter www.bleckkirche.info. Anruf ist erbeten unter 0209/595984.

 

 

Zum Weiterlesen

Bertold Brecht, Kleines Organon für das Theater, in:  Gesammelte Werke. Werkausgabe in 20 Bänden, Suhrkamp 1967, Bd. 16 (3-518-00915-X)